Berlin war schon von jeher ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Doch selbst zum Thema Dahinscheiden aus dem Leben beweist diese Stadt wieder einmal eindrucksvoll, dass auch ihre letzten Ruhestätten besondere Aufmerksamkeit verdienen. Wo andere Weltstädte ihre Begräbnisstätten mehrheitlich groß und zentral angelegt und ausgeweitet haben, finden sich in Berlin über 200 kleinere Totenäcker. Doch trotz - oder vielleicht auch gerade wegen - ihrer im Vergleich geringen Größe sind die Berliner Friedhöfe außergewöhnlich abwechslungsreich und sehenswert.
Die ältesten bis heute erhaltenen Friedhöfe Berlins wurden Mitte des 18. Jahrhunderts angelegt. Von hochrangigen zeitgenössischen Künstlern gestaltet Grabstätten sind bis heute erhalten und zeigen den interessierten Besuchern in unverfälschter Art die Entfaltung der Friedhofskultur von damals bis heute. Ein besonders eindrucksvolles Exemplar ist der Alte Sankt Matthäus Kirchhof.
(Foto: Dorotheenstädtischer Friedhof im Berliner Ortsteil Mitte. Viele prominente Persönlichkeiten wie unter anderem Alt-Bundespräsident Johannes Rau haben ein Grab auf diesem Friedhof.)
Obwohl er auf Grund der Menge an Berliner Friedhöfen nicht sehr häufig in Reiseführern gelistet ist, bietet dieser 1856 eingeweihte Gottesacker bedeutend mehr an kulturhistorischen Attraktionen als andere, bekanntere Friedhöfe.
Berlin zur Gründerzeit - wer nicht nur darüber lesen, sondern Geschichte mit eigenen Augen sehen und erfahren möchte, sollte sich die aufwändig und hochwertig gestalteten Grabstätten der wohlhabenden Bürger aus dem Geheimratsviertel und der damaligen Prominenz nicht entgehen lassen. Musiker, Künstler, Mediziner, Unternehmer und Wissenschaftler, hier fanden alle ihre letzte Ruhe in pompösen Mausoleen und repräsentativ verzierten Wandgräbern. Recht bescheiden gelegen und genauso anspruchslos ausgeführt, finden sich zwischen den opulenten Denkmälern die letzten Ruhestätten zweier großer Namen, die noch heute jedem Kind bekannt sein werden: die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm, Märchen- und Geschichtensammler aus Hanau. In ganz Deutschland unterwegs und bekannt, lebten sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens als Wahlberliner und wurden auch, ihrem Wunsch entsprechend, im hohen Alter Seite an Seite auf dem alten Matthäi-Friedhof bestattet, wo sie noch heute gemeinsam mit Wilhelms Söhnen ruhen.
Neben diesen schillernden Persönlichkeiten zeigt der alte Friedhof durch einen Gedenkstein der besonderen Art eine ganz andere Facette: den Gedenkstein für die Widerstandskämpfer des Attentats um Claus Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juli 1944. Stauffenberg und seine Mitwisser und Mitplaner des Attentats auf Adolf Hitler wurden gemeinsam verhaftet, zum Tode verurteilt und starben im Bendlerblock Kugelhagel. Ihre Gebeine wurden auf dem Sankt Matthäus Kirchhof begraben, kurz darauf aber von der SS exhumiert, verbrannt und ihre Asche verstreut. Um die heldenhafte Tat nicht vergessen zu lassen, wurde der Gedenkstein mit eingravierten Namen der aufständischen Kämpfer als Ehrengrab gesetzt.
Der bekannte Liedermacher, Sänger, Schauspieler und „König von Deutschland“ Rio Reiser, Komponist des vielfach gecoverten Hits „Junimond“, ist wohl einer der jüngsten Zugänge prominenter Beigesetzter des Alten Sankt Matthäus Kirchhofs. Bereits 1996 verstorben, wurde wurde mit Ausnahmegenehmigung auf seinem Bauernhof beigesetzt. Da das Anwesen nach fast 15 Jahren wegen Unwirtschaftlichkeit von seinen Angehörigen verkauft werden musste, konnten die Gebeine des Künstlers nicht mehr an seinem angestammten Platz bleiben. Seine sterblichen Überreste wurden am 11. Februar 2011 auf dem alten Sankt Matthäus Kirchhof beigesetzt, zu dem noch heute viele seiner Fans pilgern.
Die sexuelle Neigung Rio Reisers war noch nie ein Geheimnis. Neu ist aber vielleicht, wie viele Homo- und Bisexuelle auf dem alten Sankt Matthäus Kirchhof beerdigt sind. „Deutschlands schwulster Friedhof“ wird er genannt, und der seit 14 Jahren jährlich am 17. Mai stattfindende Rundgang „Kreuz & Queer“ ist stets gut besucht. Eine neue Tradition scheint sich hier aufzutun, abseits der regulären Besucher. Wo anderen eine letzte Ruhestätte verwehrt wird, scheint der Sankt Matthäus Kirchhof für christliche Verhältnisse unüblich tolerant und weltoffen. Konfessionslosen oder „anders“ Ausgerichteten, wie Rio Reiser, wird hier nicht die letzte Ehre verwehrt. Dieses „Anderssein“ manifestiert sich eindrucksvoll anhand der Grabgestaltung, Klischees werden hier eindrucksvoll bedient. Bunte Grabstellen mit hohem Kitschanteil blitzen auf diesem alt-ehrwürdigen Gottesacker hervor, während Andere eher auf die noble Zurückhaltung Wert legten.
Dass der Alte Sankt Matthäus Kirchhof trotz seiner kulturellen und historischen Sehenswürdigkeiten auch offen für neue, bisher weniger beachteten Themen ist, zeigt der 2008 eröffnete „Garten der Sternenkinder“, auf welchem still- oder fehlgeborene Kinder und Kleinkinder, die noch nicht bestattungspflichtig sind, beigesetzt werden können. Hier, in einer stimmungs- und friedvollen Umgebung, finden Eltern und Angehörige einen Ort, an dem sie um ihr Kind trauern und sich zur Besinnung zurückziehen können. Besonders in einer derartig belastenden Lebenssituation ist diese Art der Unterstützung ein großer Beitrag, um die Trauer bewältigen und einen Neuanfang machen zu können.
Der Alte Sankt Matthäus Kirchhof ist nur einer der vielen interessanten und sehenswerten Friedhöfe Berlins. Jeder einzelne bietet dem Besucher Einblicke in die Geschichte und die Kultur der Hauptstadt. Der hauptsächliche Grund, weshalb gerade in Berlin keine wenigen zentralen Begräbnisstätten wie in anderen Großstädten, sondern viele kleinere in der ganzen Stadt verteilte Friedhöfe zu finden sind, liegt in der Entstehungsgeschichte der Stadt. Während andere Städte aus kleinen Ortschaften erwuchsen, entstand Berlin aus vielen kleineren Ortschaften.
Städte und Gemeinden verfügten von jeher über eigene Gottesäcker, auf welchen die Einwohner bestattet werden konnten. Vom 13. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderten Seuchen und Epidemien, Unfälle, Infektionskrankheiten, Kindersterblichkeit und Entbindung von Säuglingen viele Todesopfer. Das Durchschnittsalter eines Menschen der damaligen Zeit wird auf 45 Jahre geschätzt, die wenigsten Kinder überlebten das 15. Lebensjahr. Diese überaus hohe Sterblichkeitsrate bestimmte den Bedarf an Grabstellen, es mussten neue Friedhöfe angelegt und alte erweitert werden.
Nach den erwähnten Seuchen und Krankheiten des Mittelalters bis Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die Bevölkerungszahl rasch und stetig zu, was auf das neu entwickelte und verbreitete Wissen über Hygiene und deren Einfluss auf Krankheiten und Epidemien zurückzuführen ist. Ab Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts benötigten die Gemeinden deshalb immer neue und größere Friedhöfe und bedienten diesen Bedarf durch die Anlage neuer Leichenäcker.
Als sich 1920 die umliegenden 27 Gutsbezirke und 59 Kirchengemeinden zu einem Ganzen zusammenschloss und zu einer großen Stadt verschmolz, war Groß-Berlin entstanden. Jede der vormals eigenständigen Gemeinden brachte ihre ortseigene Kirche und Begräbnisstätte in die neu gebildete Stadtgemeinde mit ein. Die Friedhöfe wurden so in das Stadtbild integriert, wie sie heute noch bestehen. Selbst neuere, im Umland entstandene Großfriedhöfe führten nicht dazu, die alten Friedhöfe zu begrenzen oder gar zu entfernen, was uns eine kulturelle und historische Vielfalt bietet, welche nicht überall zu finden ist.
Ende des 20. Jahrhunderts, als die einstmals hohe Sterblichkeitsrate zurückging und die Lebenserwartung immens anstieg, werden neue Friedhofsanlagen nicht mehr benötigt. Die Einstellung zu Begräbnissen hat sich in der heutigen Zeit stark verändert. Wo von jeher Erdbestattungen gang und gäbe waren, tendiert die neue Begräbnisrichtung eher hin zur Feuerbestattung. Die vorhandenen Flächen bestehen jedoch nach wie vor, was dem Träger der Friedhöfe große finanzielle Einbußen bringt. Freie, brach liegende Grabstellen erfordern einen erhöhten Pflegeaufwand, welcher auf Grund der Rückgänge an Bestattungen und den daraus resultierenden geringen Erlösen kaum mehr sichergestellt werden kann. Das wirkt sich leider auf den allgemeine Zustand der historischen Friedhöfe aus.
Auf Grund der rückläufigen Entwicklung von Bestattungen bzw. Bestattungsarten wurde ein Friedhofsentwicklungsplan erstellt. Laut dieses Plans werden noch große Teile der bestehenden Friedhofsflächen als letzte Ruhestätten für Angehörige zur Verfügung stehen. Die Flächen, die zukünftig nicht mehr genutzt werden, sollen anderen Verwendungszwecken zugeführt werden. Natürlich kann dieser Plan nicht von heute auf morgen umgesetzt werden, da die Grabflächen erst nach und nach frei werden, doch es wird ruhig und besonnen an der Umsetzung gearbeitet.
Die Frage, ob ein Besuch auf einem der zahlreichen Berliner Friedhöfe lohnenswert ist, stellt sich erst gar nicht. Kultur, Historie, Prominenz - Berliner Friedhöfe zeigen jedem das, was diese großartige Stadt für ihn persönlich so einzigartig macht. Es ist an uns, diese sich uns bietende Gelegenheit beim Schopf zu packen, uns in die Vergangenheit entführen zu lassen und in Ruhe und Besinnlichkeit den Weg in das heutige Berlin zu finden.
Auf einem herkömmlichen Grabstein stehen nur spärliche Informationen. Lediglich der Name des Verstorbenen, der Geburts- und der Todestag sind karg in den Stein gemeißelt. Manchmal ist noch ein Spruch zu lesen, mehr jedoch nicht. Wer wirkliche Informationen über den Toten erfahren will, muss auf moderne Friedhöfe gehen. Auf einem digitalen Friedhof, der Grabsteine mit dem sogenannten QR-Code enthält, hat der geübte Handy-Nutzer Zugriff auf sämtliche Informationen, die das weltweite Netz so hergibt.
Eigentlich sehen diese modernen Grabsteine aus wie alle anderen. Doch ein entscheidendes Detail ist bei ihnen anders. Mit dem speziell aufgetragenen QR-Code direkt auf dem Grabstein kann sich jeder ein lebhaftes Bild des Verstorbenen machen. Kurz das Smartphone gezückt, den Code gescannt und schon wird man über einen Link auf die entsprechende Seite im Internet gelotst.
Wer also das nächste Mal einen Friedhof betritt und interessante Persönlichkeiten entdeckt, sollte nach dem schwarz-weißen Quadrat Ausschau halten. Schließlich weiß man ja nie, wofür diese Information gut ist. Die digitale Welt ist mittlerweile zumindest auf einigen Friedhöfen angekommen - Grabsteine mit QR-Code sind zwar generell noch die Ausnahme, sie könnten aber langfristig die Regel werden. Und was sagen die Toten dazu?